In Amtzell stand ein aufregender Termin auf dem Plan: die Abstimmung über den sofortigen Ausstieg aus dem Biosphären-Prüfprozess.
Es handelt sich um einer Art SPHÄXIT. Als „Prüfprozess“ bezeichnet die Regierung von Baden-Württemberg die Vorbereitungen zur Einführung des geplanten UNESCO-Biosphärenreservats Oberschwaben-Allgäu.
Auf Wikipedia steht: Amtzell ist eine Gemeinde mit 124 Einzelgehöften und Weilern in Oberschwaben und gilt als „Westliches Tor zum Allgäu“. Amtzell liegt etwa auf halber Strecke zwischen den Städten Ravensburg und Wangen im Allgäu an der Bundesstraße 32. Einwohnerzahl: ca. 4.300. Innerhalb der Gemeinde sind mehrere Naturschutz- und Landschaftsschutzgebiete ausgewiesen.
Seit 2021 plätscherte dieser „Prüfprozess“ eher unbeobachtet vor sich hin. Seit wenigen Monaten jedoch spitzt sich die Diskussion zu. Tenor in den betroffenen Kommunen: Brauchen wir so etwas überhaupt? Auch im Gemeinderat von Amtzell fragt man sich das vehement.
Mehrere Gemeinderäte wollen aus dem Biosphären-Suchgebiet raus
Die Ablehnung des riesigen Schutzgebiets, das von Stuttgart unbedingt gewollt wird und fast über den gesamten Landkreis Ravensburg (und darüber hinaus) gelegt werden soll, ist massiv. Das Suchgebiet für die Biosphäre misst fast die 10-fache Fläche von Liechtenstein.
Kein Nutzen, nur Behinderungen, sagen die Gegner.
Seht doch die großen Chancen für Wirtschaft und Natur, sagen die Befürworter.
Mehrere Gemeinderäte wollen aus dem Biosphären-Suchgebiet raus. Sofort. Insgesamt vier haben die Abstimmung über den SPHÄXIT vor Wochen beantragt. Darunter die streitbare Landwirtin Birgit Arnegger.
Jede Gemeinde im Suchgebiet darf darüber selbst befinden, ob es Teil der Biosphäre wird oder nicht, verspricht Stuttgart. Es gibt jedoch Zweifel an der Lauterkeit dieser Beteuerung. Gesetzlich vorgeschrieben ist die Selbstbestimmung der Gemeinden nicht. Stuttgart kann durchregieren, wenn es will.
„Die Oberschwaben sind halt etwas dickköpfig“
Seitdem Winfried Kretschmann vor wenigen Tagen via Deutsche Presse-Agentur seinen Unmut über die → mangelnde Begeisterung der Oberschwaben für den Biosphärentraum bekundete und dabei tiefe Einblicke in sein patriarchalisches Denken gewährte, dämmert manchem, dass es mit dem Demokratie-Gerede der Politik doch nicht so weit her ist. Vor allem dann, wenn es anders läuft als Stuttgart will.
In diesem entlarvenden Gespräch stellt Kretschmann die Biosphärenzweifler als Unwissende hin, die einfach nicht verstehen wollen, was gut für sie sei.
Zitat Kretschmann: „Die Oberschwaben sind halt etwas dickköpfig.“
Jetzt aber endlich nach Amtzell und zur spannenden Gemeinderatssitzung. Dort fand am 22. April 2024 eine Abstimmung darüber statt, ob die Kommune geschlossen aus dem Prüfprozess für das Biosphärenreservat Oberschwaben-Allgäu austreten soll.
„Sonst kommen nur fünf bis 6 Zuschauer, heute erwarten wir mehr“
Es war nur ein Tagesordnungspunkt (TOP 4) unter vielen. Neben dem Vortrag eines Agrar-Ingenieurs aus dem Landratsamt über die biologische Sanierung irgendwelcher stehenden Gewässer (TOP 3) und der Huldigung des langjährigen Kommandanten der Freiwilligen Feuerwehr (TOP 5). Aber dieser eine TOP hatte es in sich.
Der SPHÄRMAN war als erster Gast vor Ort und wurde von Bürgermeisterin Manuela Oswald persönlich begrüßt. Zitat Oswald: „Sonst kommen nur fünf bis 6 Zuschauer, heute erwarten wir mehr.“ So war es dann auch. Mit weit über 50 Besuchern war die Stuhlkapazität im Gemeinderatssaal schnell erschöpft.
Bald fanden sich die restlichen Gemeinderatsmitglieder ein und auch die Lokalpresse nahm in Gestalt einer freien Mitarbeiterin der Schwäbischen Zeitung namens Ingrid Kraft-Bounin am eigens dafür vorbereiteten Pressetisch Platz. Die Reporterin saß dem restlichen Publikum vorgelagert. Eine liebevoll zubereitete Stulle lag bereit. Man kennt sich und sorgt für wechselseitiges Wohlbefinden.
Der SPHÄRMAN (also ich) hockte mitten zwischen den Bürgern und schrieb in ein Notizbüchlein auf seinen Knien, was er sah und hörte.
Es war schon spät (19 Uhr), draußen senkte sich die Dunkelheit über das kalte Land (später in der Nacht schneite es sogar) und im hell erleuchteten Sitzungssaal machte sich fröhlich-erwartungsvolle Stimmung breit.
Bürgermeisterin Manuela Oswald eröffnet schwungvoll die Versammlung
Ich wechsle jetzt ins Präsens, denn dies erleichtert die Nacherzählung. Redundante Elemente (also inhaltliche Wiederholungen) werden weggelassen.
Bürgermeisterin Manuela Oswald eröffnet schwungvoll die Versammlung. Sehr schwungvoll, was daran liegen könnte, dass sie eine innere Anspannung zu überspielen versucht. Kein Wunder. Eine schwierige Entscheidung steht an. Die parteilose Beamtin kandidierte für die Freien Wähler und brachte als gelernte Verwaltungswirtin und Mediatorin gute Voraussetzungen mit ins Amt.
Aus Bürgermeisterin Oswald strahlt eine natürliche Freundlichkeit, die auch unter erheblichem Druck nicht versiegt, wie man im Verlauf des Abends noch feststellen wird. Wenngleich ihre Bemühungen, das bevorstehende Votum in ihrem Sinne zu beeinflussen, fast scheitern werden. Aber nur fast.
Sie freue sich über das rege Interesse aus der Landwirtschaft, sagt Oswald mit einem Blick über die Stuhlreihen, und begrüßt dann namentlich die Abgesandte der Schwäbischen Zeitung. Das führende Regionalmedium genießt Respekt bei den Funktionsträgern des Staates.
Dann geht’s los. TOP 1 betrifft geheime Beschlüsse, die es nicht gab. Abgehakt. Es folgt die sogenannte Bürgerfragerunde (TOP 2), einzige Gelegenheit für das Publikum im Rahmen der Gemeinderatssitzung die Stimme zu erheben.
„Setzen Sie ein Zeichen für die Bauernschaft und wählen Sie das Biosphärengebiet ab!“
Es melden sich zwei jüngere Landwirte mit Fragen, die eher wie einstudierte Statements wirken.
Landwirt #1 sinngemäß: Ist der Gemeinde bewusst, dass die Biosphäre ein Schutzgebiet nach Naturschutzrecht ist? Dann geht es um Photovoltaik auf Freiflächen, die in der Biosphäre verboten seien. Und zum Schluss der Appell: „Setzen Sie ein Zeichen für die Bauernschaft und wählen Sie das Biosphärengebiet ab!“ Heftiger Applaus aus dem Publikum.
Landwirt #2 sinngemäß: Viele bäuerliche Betriebe würde ein Biosphärengebiet in Existenznöte bringen. Wege- und Siedlungsbau werden der Naturschutzbehörde unterstehen. Ich sehe für künftige Generationen schwarz. Wenn das Biosphärengebiet kommt, gibt es keinen Weg raus. Haben Sie die Vor- und Nachteile sauber rausgearbeitet? Wir haben wohl keine finanziellen Vorteile. Heftiger Applaus aus dem Publikum.
Routiniert beendet Oswald die Fragerunde und moderiert den Naturschutzbeamten Dr. Elmar Schlecker an (TOP 3), der über die biologische Sanierung diverser Seen und Teiche zu referieren beginnt. Es geht um Gewässer, die aus dem Gleichgewicht geraten sind, oftmals durch Nährstoffeintrag aus dem Ackerbau.
Das macht Schlecker nicht zum Sympathieträger im Saal, wo die Bauernschaft zahlreich vertreten sitzt. Der staatliche Naturschutz hat sich zum natürlichen Fressfeind der Landwirte gemausert. Auf einen Publikumspreis darf Schlecker an diesem Abend nicht hoffen.
„Immer, wenn in der Natur irgendwas nicht funktioniert, sind die Landwirte schuld“
Entsprechend hämisch werden Schleckers Ausführungen im Publikum kommentiert. Auch aus dem Gemeinderat kommen Wortmeldungen, in denen sich eine gewisse Verbitterung Bahn bricht.
Der stellvertretende Bürgermeister Hans Roman von der CDU sagt: „Immer, wenn in der Natur irgendwas nicht funktioniert, sind die Landwirte schuld.“
Und Biosphären-Rebellin Birgit Arnegger (Bürger für Amtzell und Pfärrich – BAP) meint: „Kann man denn unsere nachhaltige Landwirtschaft auch mal gut finden?“
Dann wird es spannend. TOP 4: Abstimmung über den sofortigen Ausstieg aus dem Prüfprozess. Fast alle im Publikumsbereich sind nur deshalb gekommen.
Oswald erhebt die Stimme, spricht schneller als zuvor. Wirkt sie aufgeregt? Ohne Zweifel ja. Oswald delegiert ihre Gefühle an den Rest im Saal: Bei vielen sei das, was jetzt kommt, ein sehr emotionales Thema, es gäbe schlimme Erfahrungen mit den FFH-Gebieten, sagt sie.
Was meint Oswald damit?
[ERKLÄRUNG: FFH steht für Flora-Fauna-Habitat. Der Schreck über den (von der ehemals alleinregierenden CDU begangenen) Betrug im Zusammenhang mit den FFH-Gebieten steckt vielen Landnutzern bis heute in den Knochen. Damals (um 2010) wurden weite Flächen – entgegen anderslautenden Versprechen – über die Köpfe der Eigentümer hinweg als Flora-Fauna-Habitat-Gebiete ausgewiesen und die Bauern mit erheblichen Einschränkungen bei der Bewirtschaftung belegt.]
„Ich entschuldige mich, dass ich auch emotional werde, weil wir zum Spielball von Interessensträgern gemacht werden“
Oswald redet jetzt ihrem Gemeinderat ins Gewissen, indem sie sich selbst zum Opfer von Manipulationen erklärt. Ein schlauer Trick. Oswald macht das ICH zum WIR: „Ich entschuldige mich, dass ich auch emotional werde, weil wir zum Spielball von Interessensträgern gemacht werden.“
Damit spielt Oswald wohl auf die „Allianz der Landbesitzer und Bewirtschafter“ an.
[ERKLÄRUNG: Die „Allianz“ ist ein Zusammenschluss von Landeigentümern und Landbewirtschaftern, also Forstwirte, Holzverarbeiter, Jäger, Landwirte und ihre Verbände, die sich vor einem Biosphärenreservat Oberschwaben-Allgäu bedroht fühlen. Die Schwäbische Zeitung zählt folgende Mitglieder auf: Bauernverband Allgäu-Oberschwaben, die Forstkammer Baden-Württemberg, die Familienbetriebe Land und Forst Baden-Württemberg, der Bundesverband Deutscher Milchviehhalter, der Verband der Jagdgenossenschaften und Eigenjagdbesitzer Baden-Württemberg, sowie land- und forstwirtschaftliche Betriebe der Region. Es ist kein Geheimnis, dass sich unter den Biosphärenrebellen berühmte Adelsfamilien befinden, allen voran der streitbare Fürst Erich von Waldburg-Zeil. „Allianz“-Sprecher Michael Fick ist bei ihm als Förster angestellt. Aber auch kleine Waldbesitzer und Mitglieder von Genossenschaften sind in der „Allianz“ vertreten. Längere Zeit traute man dem bunten Haufen kein einheitliches Vorgehen zu, da die Interessenlage innerhalb der Gemeinschaft alles andere als homogen ist. Doch das hat sich geändert. Gezielt betreibt die „Allianz“ Öffentlichkeitsarbeit und gewinnt immer mehr Reichweite. Kretschmanns Biosphären-Schelte via dpa katapultierte die „Allianz“ sogar bis in die Leitmedien Deutschlands.]
Ein Hauch Cicero schwebt in der Luft
Minutenlang spricht Manuela Oswald mit geröteten Wangen und ausladender Gestik zur Versammlung. Entweder fällt dieser Bürgermeisterin die öffentliche Rede leicht oder sie wurde extra für diesen Auftritt gecoacht. Ein Hauch Cicero schwebt in der Luft.
[ERKLÄRUNG: Konsul Marcus Tulius Cicero war der berühmteste Redner des alten Rom, dessen Catilinarische Reden den Führungsanspruch der römischen Elite gegen den Unmut des Volkes verteidigten, als die Römische Republik in ihren letzten Zügen lag und ein gewisser Lucius Sergius Catilina gegen Vetternwirtschaft und Ausbeutung durch Steuern Stimmung machte und wütende Kleinbauern, Handwerker und Ladenbesitzer hinter sich versammelte. Catilina musste fliehen, viele seiner Anhänger wurden hingerichtet. Aber die Republik war am Ende und glitt in einen Bürgerkrieg, zu dessen Ende Julius Cäsar als Diktator die Macht übernahm.]
Stadt Überlingen, Aulendorf, Landratsamt Lindau, Amtzell: Seit über 20 Jahren steht Manuela Oswald treu in Diensten des Staates. Das nur zur Einordnung.
Die wichtigsten Sätze von Manuela Oswald im Auftakt von TOP 4:
„Wir sind noch nicht so weit, dass wir Bescheid wissen. Dem Gremium wird eine Entscheidung aufgedrängt.“
„Wir brauchen Zeit zum Diskutieren. Ein Ringen um gute Lösungen unterbleibt so.“
„Es geht darum, voreilig einen Verhandlungstisch zu verlassen.“
„Man muss es erst zu Ende diskutieren, damit klar ist, das Biosphärengebiet ist nicht die Lösung.“
„Ich stimme mit vielen Argumenten der Allianz überein und deshalb will ich den Prozess nicht stoppen.“
Damit gibt Oswald dem Sitzungsverlauf einen Drall, der schwer zu korrigieren ist. Die SPHÄXIT-Befürworter wehren sich dennoch tapfer.
„Ich bin weder von der Allianz noch von einem anderen gesteuert“
Als Erster nach Oswald ergreift Energiemanager Claus Schmehl (stellvertretender Bürgermeister und von der BAP – Bürger für Amtzell und Pfärrich) das Wort: „Ich bin weder von der Allianz noch von einem anderen gesteuert, aber wir brauchen nicht weitermachen, weil ich glaube, dass wir da nicht mehr rauskommen [Anmerkung: aus der Biosphäre]. In 20 Jahren wird man erzählen, zum Glück gab es damals Leute, die sagten: Wir steigen aus!“
Jetzt spricht die Künstlerin Maria Prinz von der Unabhängigen Liste (UL). Prinz warb anlässlich der letzten Bundestagswahl für die Grünen. Nun spricht sie aufgeregt im Saal umherblickend und sagt mit zitternder Stimme: „Ich bin schockiert. Wir müssen doch jetzt keine Entscheidung treffen. Man muss die Menschen anhören.“
Und dann kommt etwas, was für die Gemeinderatsitzung unwichtig ist, aber Tage später in der Berichterstattung der Schwäbischen Zeitung aufgenommen und verdreht wird. Prinz: „Ich bin angegangen worden von so einem fadenscheinigen Redakteur, der als SPHÄRMAN mit Hass und Hetze im Internet Stimmung macht. So sollten wir nicht miteinander umgehen.“
Fadenscheinig? Hass und Hetze? Nun, das muss der SPHÄRMAN aushalten. So etwas gehört zur Meinungsfreiheit.
Was ich aber nicht aushalten muss, ist das, was Schwäbische-Mitarbeiterin Ingrid Kraft-Bounin aus den Prinz-Worten machte. Darauf gehe ich in einem eigenen Artikel ein, und zwar → hier.
„Wir brauchen kein Naturschutzgebiet übergestülpt, das von der Oberen Naturschutzbehörde in Tübingen regiert wird“
Mit Kraftfahrzeugmeister Stefan Rilling von der CDU spricht nun einer der vier Antragsteller für die Abstimmung über den SPHÄXIT: „Ich verstehe nicht, wie jemand auf die Idee kommt, uns in ein Suchgebiet zu nehmen. Wir sind doch keine strukturschwache Region. Wir haben eine prosperierende Landwirtschaft, Unternehmen, Vereine. Wir schützen unsere Umwelt, wo es geht.“
Rilling äußert den Verdacht, die Regierung sei „scharf auf unsere Flächen“ und wolle mit dem Schutzgebiet die Voraussetzungen für eine Art Landnahme schaffen, bei der viel zu geringe Entschädigungszahlungen fließen werden.
Rillings Fazit: „Wir brauchen kein Naturschutzgebiet übergestülpt, das von der Oberen Naturschutzbehörde in Tübingen regiert wird.“
Und mit einem vielsagenden Geste nach hinten, wo Journalistin Ingrid Kraft-Bounin sitzt, spielt Rilling auf die Berichterstattung in der Schwäbischen Zeitung an und fügt hinzu: „Auch wenn man uns deshalb als schlechte Demokraten hinstellt, wie man in der Zeitung las…“
Eigentlich meint Rilling seine Gemeinderats-Kollegin, die Strick-Künstlerin und Grüne-Werberin Maria Prinz, die anlässlich des Ausstieg-Abstimmungs-Antrags in der Schwäbischen so zitiert wurde: „Das ist für mich eigentlich ein Angriff auf die Demokratie.“
Da hat Stefan Rilling wohl den Überbringer der Botschaft mit dem Absender verwechselt. Trotzdem kassiert Rilling heftigen Applaus aus dem Publikum.
Da kann sich Manuela Oswald nicht zurückhalten. Mit rudernden Armen ruft die Bürgermeisterin erregt: „Die Entscheidung wird uns nicht übergestülpt, sondern wir entscheiden!“
Sie glauben an den Staat und die Lauterkeit seiner Funktionseliten, als hätte es nie einen FFH-Betrug gegeben
Offenbar gehen Oswald und andere Gemeinderäte von Amtzell davon aus, dass sie in einem Verfahren agieren, in dem die Regeln festgeschrieben sind und die Akteure auf den fairen und transparenten Austausch von Argumenten vertrauen dürfen.
Sie glauben an den Staat und die Lauterkeit seiner Funktionseliten, als hätte es nie einen FFH-Betrug gegeben.
Gemeinderätin Adelinde Wanner von der Offenen Bunten Liste (OBL) stimmt Rilling zu, will aber keinen raschen Ausstieg, sondern sich mit ihren Amtskollegen ausgiebig beraten.
Dem fügt Imelda Schnell (Unabhängige Liste – UL) hinzu, dass sie sich nicht nur auf Informationen aus dem Lager der Landwirte verlassen möchte.
Hans Roman (CDU) sagt: „Ich bin zu fast 100 Prozent gegen ein Biosphärengebiet. Aber wir sollten dem Fahrplan folgen.“
Und Musiker Thomas Linder (UL): „Ich fühle mich mit diesem Antrag über den Tisch gezogen. Wir sollten uns vertagen.“
Landwirt Otto Almendinger will sofort aus dem Suchgebiet austreten und argumentiert mit dem big picture:“Es geht um die Signalwirkung. Deshalb sitzt ja die Presse da.“
„Hier wird der ländliche Raum gegen die Stadt ausgespielt…“
Almendinger rechnet mit einem Täuschungsmanöver des Staates, der sich ländliche Flächen unter den Nagel reißen und viel zu niedrige Entschädigungen bezahlen will. Zitat: „Hier wird der ländliche Raum gegen die Stadt ausgespielt. Deswegen bin ich dafür, dass jetzt über diesen Ausstieg abgestimmt wird. Wegen der Signalwirkung.“
Ausstiegs-Protagonistin Birgit Arnegger stimmt zu: „Ja, wir sollten auf kommunaler Ebene ein Zeichen setzen. Ganz demokratisch.“
Feuerwehrkommandant und Gemeinderat Martin Weber (CDU) berichtet von einer Informationsveranstaltung des „Prozessteams“ in der Nachbargemeinde Vogt: „Wir hatten den Eindruck, dass wir keine ehrlichen Antworten bekamen. Deshalb bin ich dafür, ein Zeichen zu setzen.“
[ERKLÄRUNG: Das sogenannte „Prozessteam“ ist eine Art Kommunikations- und Organisationsagentur des Umweltministeriums für das geplante Biosphärenreservat und ist im Landratsamt Ravensburg angesiedelt. Dieses „Prozessteam“ ist für Administration, Koordination, Öffentlichkeitsarbeit und Entwicklung von Konzepten zuständig und mit vier Experten bestückt: Raumplanerin und ehemalige Entwicklungshelferin Lisa Polak, Agrarbiologe Franz Bühler, Förster und Waldpädagoge Berthold Reichle und Petra Bernert, die ehemalige Chefin des Biosphärenreservats Schwäbische Alb. Offiziell heißt es, das Büro informiere neutral, doch angesichts der „Prozessteam“-Auftritte kann man das mit gutem Gewissen als politischen Etikettenschwindel bezeichnen.]
Die Unsicherheit unter den Gemeinderäten ist überdeutlich
Es folgt eine längere Diskussion, ob der Ausstiegs-Antrag zurückgezogen wird, um weitere Zeit zu gewinnen.
Die Unsicherheit unter den Gemeinderäten ist überdeutlich. Man hat den Eindruck, alle bemühen sich nach Kräften, eine gute Entscheidung zu finden, aber es gibt einfach zu wenig Fakten. Das mag daran liegen, dass vom „Prozessteam“ in Ravensburg zu wenig Konkretes geliefert wird. Möglicherweise bewusst, um den Widerstand zu zermürben?
Dann naht der Höhepunkt der Sitzung: das Votum. Soll Amtzell aus dem Prüfprozess kurzfristig aussteigen oder nicht?
Weil Gemeinderat Martin Weber beantragt hatte, dass die Abstimmung über den Ausstieg geheim erfolgen soll, wird erstmal darüber abgestimmt.
Gemeinderätin Maria Prinz fühlt sich überfordert: „Über was stimmen wir jetzt ab?“ Prinz lacht gequält und vergräbt ihr Gesicht in beiden Händen. Auf die anderen Ratsmitglieder wirkt die kleine Szene entspannend.
Mehr als eine Stunde harter Diskussion liegt hinter ihnen. Befreit lachen sie mit und erklären der Kollegin liebevoll das Prozedere. Ja, auch das ist Demokratie – wenn die Langsamen nicht zurückgelassen werden. Die Mehrheit spricht sich für eine geheime Abstimmung aus.
Nun wird es wieder sehr ernst. Die Sitzungsteilnehmer geben ihre Zettel ab. Das Ergebnis wird ausgezählt: 6 sind für den sofortigen Ausstieg aus dem Prüfverfahren. Eine Enthaltung. 7 sind dagegen. Ein knappes Votum. In Amtzell bekommt die Biosphäre noch eine Chance.
Die Miene von Bürgermeisterin Manuela Oswald lockert sich sofort. Man kann fast den Stein hören, der ihr vom Herzen fällt: plumps. Souverän und empathisch hat sie durch diese Sitzung geführt und aus ihrer Sicht keinen Hehl gemacht. Es ist geschafft.
Ohne Verschnaufpause moderiert sie fröhlich den nächsten TOP an: Bestätigung der Wahl des Feuerwehrkommandanten. Sie hat es geschafft.