Das demokratische Defizit in Baden-Württemberg stärkt die Biosphärenmacher

KI-Bild: Guten Tag, ich bin Harald Sievers, Landrat von Stuttgarts Gnaden

Das Kommunalwahlrecht von Baden-Württemberg macht Landräte zu Marionetten und begünstigt die Biosphärenpläne der Regierung.

Am 9. Juni fanden Kommunalwahl und Europawahl gleichzeitig statt. Ein Fest der Demokratie, tönte es allenthalben. Ist das wirklich so?

EUROPAWAHL: Gewählt wird lediglich das EU-Parlament, das aber nicht viel zu melden hat. Die Musik spielt in der Europäische Kommission, der wahren „Regierung“ der EU. Die Mitglieder der Kommission werden von den Regierungen der EU-Staaten nominiert. Die ungewählte Chefin der Kommission heißt bis zur Wahl und möglicherweise weiterhin Ursula von der Leyen.  Handelt es sich hierbei um Demokratie? Nicht wirklich.

KOMMUNALWAHL IN BADEN-WÜRTTEMBERG: Hier können Bürgerinnen und Bürger ihre Kommune und ihren Landkreis aktiv mitgestalten, schreibt die Landeszentrale für politische Bildung (lpb) in Stuttgart. Das stimmt nicht ganz. Denn wer am 9. Juni NICHT gewählt wurde, sind die 35 Landräte von Baden-Württemberg. Die sogenannten „Landratswahlen“ alle 8 Jahre sind nämlich gar keine demokratischen Wahlen und fanden auch nicht am 9. Juni statt.

Zirkusdirektor des Biosphärenverfahrens

Genau genommen werden Landräte in Baden-Württemberg im Stuttgarter Innenministerium aus einer Reihe von Kandidaten handverlesen und dürfen sich dann vor dem Kreistag bewerben. Für manchen Landkreis gibt es nur einen einzigen Kandidaten. So wie vergangenes Jahr im Bodenseekreis. Oder 2022 in Biberach. Oder 2020 im Schwarzwald-Baar-Kreis… 

Das ist alles andere als Demokratie. Warum ich das Thema hier vertiefe?

Der Landrat von Ravensburg ist verantwortlicher Oberaufseher im Prüfprozess für das geplante UNESCO-Biosphärenreservat Oberschwaben-Allgäu und eine Art Zirkusdirektor des undurchsichtigen Verfahrens. Das kam in meiner Berichterstattung bisher zu kurz.

So. Jetzt erstmal durchatmen und in Ruhe mein neues KI-Bild oben betrachten. Der SPHÄRMAN liebt es nämlich mit künstlicher Intelligenz zu spielen. Es zeigt einen Herrn namens Harald Sievers im Gewand eines Landvogts um 1800, als das heutige Oberschwaben und das südliche Baden noch österreichisch waren. 

Der Landvogt ist eine Art Vorfahr des Landrats. Er war der höchste Vertreter seines Landesherrn in einem Teilterritorium. Das ist der Landrat auch heute noch. Im Grunde hat sich an diesem Amt seit Beginn des 19. Jahrhunderts nicht viel geändert.

Heimlicher Herrscher über fast 300.000 Schwaben

CDU-Mann Harald Sievers ist Landrat von Ravensburg und steht dem Kreistag vor. Der politisch eher blasse Verwaltungsjurist aus Münster in Westfalen agiert seit über 9 Jahren als heimlicher Herrscher über fast 300.000 Bürgern im Gemeindeverband. Ist das der Allgemeinheit bewusst? Ich glaube nicht.

Selbst ein mittelschwerer Skandal konnte dem Mann nichts anhaben. Kein Wunder: Wie oben erwähnt ist seine Stellung das Ergebnis einer bürgerfernen Mauschelei, die in Stuttgart ausgebrütet wurde.

In einem anderen Artikel berichte ich über zwei schlaue und ehrgeizige BürgermeisterInnen mit Ausblick auf eine große Beamtenlaufbahn: Manuela Oswald aus Amtzell und Timo Egger aus Fleischwangen.

Beide sind in der Staatsbürokratie Oberschwabens fest verankert und wichtige Schlüsselfiguren für den Biosphärentraum aus Stuttgart. Das übersehen viele und deshalb widmete ich diesen beiden Kommunalpolitiker-Beamten meine Aufmerksamkeit. Wer die Details nachlesen will, klickt → hier.

So viele Beamte als Bürgermeister

Warum diese beiden Persönlichkeiten bedeutsam sind, hängt mit dem sehr speziellen Kommunalwahlrecht in Baden-Württemberg zusammen und erklärt, weshalb es hier so viele Beamte auf Bürgermeisterstühlen gibt. Das Motto dabei lautet: Stuttgart fördert Karrieren und erwartet dafür Wohlverhalten in der Provinz.

Aber was hat das mit der Biosphäre zu tun? Lasst mich erst erklären, warum Landrat-Stehaufmännchen Harald Sievers Hauptfigur dieses Newsletters ist.

Wie wird jemand Landrat und bleibt es trotz eines knackigen Skandals? Weil es hier anders läuft als im Rest von Deutschland. Fast. Nur in Schleswig-Holstein ist es ähnlich.

Wie bereits oben erwähnt: In Baden-Württemberg werden Kandidaten für das Landratsamt im Innenministerium sorgfältig ausgewählt, bevor sie sich im Kreistag einer Gremienwahl stellen dürfen. Mit Demokratie hat das wenig zu tun. Das war vor 13 Jahren den neuen Herren im Land durchaus bewusst, den Grünen.

Kretschmann: Versprechen gebrochen

2011 versprach Winfried Kretschmann in der Euphorie des frischgewählten Landesvaters mehr direkte Demokratie. Die Landräte in Baden-Württemberg sollten künftig vom Volk gewählt werden. So wie nebenan in Bayern, Hessen, Rheinland-Pfalz. Dort sitzen auch andere Berufsgruppen auf Landratsstühlen: Lehrer, Ärzte usw. Nicht (fast) nur Verwaltungsbeamte.

SPD und FDP unterstützten den Plan. Nur die CDU war dagegen. Logisch, die Schwarzen stellen bis heute den Großteil der Landräte in Baden-Württemberg.

Kretschmann in seiner Regierungserklärung als Ministerpräsident am 25. Mai 2011: „Auf Landkreisebene führen wir die Direktwahl der Landrätinnen und Landräte ein.“ Aber die Jahre zogen ins Land und nichts geschah. Obwohl Grüne und SPD sich öffentlich einig waren. Hatte man im Büro Kretschmann festgestellt, dass mehr Demokratie keine gute Idee ist, wenn man durchregieren will? So sieht es aus.

2015 gab Andreas Schwarz von den Grünen (seit 2016 Fraktionschef) im Rahmen eines Interviews für die Bachelorarbeit eines Studenten der Öffentlichen Verwaltung zu Protokoll: „Ich persönlich würde die Einführung der Direktwahl von Landräten in Baden-Württemberg begrüßen. Das ist ein Mehr an Mitwirkungsmöglichkeit für die Bürgerinnen und Bürger.“

Und weiter: „Nach meinem Verständnis verspricht die Direktwahl der Landräte mehr Bürgerbeteiligung, denn durch die Volkswahl der Landrätinnen und Landräte können die Bürgerinnen und Bürger unmittelbar Einfluss nehmen, wer die Untere Verwaltungsbehörde leitet und wer dem Kreistag vorsteht. Wer entsprechende Konzeptionen dem Kreistag vorlegt, wer Beschlussempfehlungen vorlegt. Die Bürgerinnen und Bürger können damit, insbesondere was die kreiskommunalen Themen angeht (ÖPNV, Berufsschulen, Abfallwirtschaft, Ausrichtung Sparkassenwesen, Jugendhilfethemen, Jugendarbeit, Naturschutzfragen) Einfluss nehmen.“

Alles schon vergessen? Jetzt aber zu Harald Sievers, den wir ganz oben im Kostüm eines Landvogts sehen. Als 2023 im Kreis Sonneberg (Thüringen) zum ersten Mal ein AfD-Politiker namens Robert Sesselmann zum Landrat gewählt wurde, lernte man in Deutschland dieses Amt besser kennen.

Wer kontrolliert Harald Sievers?

Was macht ein Landrat eigentlich? Er steht an der Spitze der Verwaltung seines Landkreises und ist Chef aller Mitarbeiter der Verwaltung. So wie der Bürgermeister einer Stadt. Ein Landrat in Baden-Württemberg verdient monatlich über 11.000 Euro brutto plus Zulagen.

Landräte vertreten die Interessen des Landkreises auf Landes- und auf Bundesebene oder zum Beispiel gegenüber Investoren. Ihre Aufgaben: Bauanträge, Abfallentsorgung, Jugendamt, Ordnungsamt, Pflegeheime, Kultureinrichtungen etc. Und Naturschutz.

Deshalb wacht Harald Sievers über das „Prozessteam“.

[ERKLÄRUNG: Das sogenannte „Prozessteam“ ist eine Art Kommunikations- und Organisationsagentur des Umweltministeriums für das geplante UNESCO-Biosphärenreservat. Dieses „Prozessteam“ ist für Administration, Koordination, Öffentlichkeitsarbeit und Entwicklung von Konzepten zuständig und mit vier Experten bestückt: Raumplanerin und ehemalige Entwicklungshelferin Lisa Polak, Agrarbiologe Franz Bühler, Förster und Waldpädagoge Berthold Reichle und Petra Bernert, die ehemalige Chefin des Biosphärenreservats Schwäbische Alb. Offiziell heißt es, das Büro informiere neutral, doch angesichts der „Prozessteam“-Auftritte kann man das mit gutem Gewissen als politischen Etikettenschwindel bezeichnen.]

Das alles hat Sievers unter Kontrolle. Und wer kontrolliert Sievers? Da wäre zum einen das Innenministerium in Stuttgart bzw. der Regierungspräsident von Tübingen in Gestalt des CDUlers Klaus Tappeser, der über eine kurze Zündschnur verfügt.

Über diesen machtbewussten und von Eitelkeit nicht unberührten Mann habe ich ein langes Porträt geschrieben, weil auch er im Biosphärenzirkus eine wichtige Rolle einnimmt. Zum Artikel geht’s → hier.

Abhängigkeitsverhältnis und Filz

Und wer schaut sonst noch Herrn Sievers auf die Finger? Jetzt wird es lustig: die eigenen Kreistagsmitglieder, die auch die Kommunen kontrollieren. Das ist grotesk, denn insbesondere kleine Gemeinden sind wiederum vom Landratsamt abhängig. Beispiel: Wenn in Amtzell ein Radweg gebaut werden soll, kommt die Genehmigung aus Ravensburg. Oder sie kommt nicht und der Radweg bleibt ein Traum.

Ein Jurist sagte mir: „Das ist ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis, in dem die Gewaltenteilung ad absurdum geführt wird und zu einem institutionalisierten Filz führt.“ Man kann es auch so ausdrücken: Die Beaufsichtigten beaufsichtigen ihre Aufsichtsbehörde, die ihnen Genehmigungen erteilt. 

Deshalb thront Harald Sievers wie festgeklebt auf seinem Amtsstuhl. Er wurde 2023 von seinem Kreisrat „wiedergewählt“, heißt es. Besser wäre: wiederernannt. Und das obwohl ihn sogar ein paar Leute der eigenen Partei aus dem Amt entfernen wollten.

Der Grund war Sievers unrühmliche Rolle im Zusammenhang mit einer monatelangen Führungskrise in der hochdefizitären Oberschwabenklinik-Gruppe (OSK). Dort hält der Landkreis Ravensburg rund 99% der Anteile und bezahlt die Verluste aus dem Steueraufkommen der Bürger. Es kam natürlich anders. Sievers hielt sich im Amt.

12 Kreistagsmitglieder (!) hocken im Aufsichtsrat der OSK und Sievers hat den Vorsitz. Dass Sievers Ehefrau in der Personalabteilung der OSK arbeitet, ist selbstverständlich reiner Zufall.

Parteienstaat in den Kommunen

Fazit: Dass die Kreistage Baden-Württembergs mit staatshörigen Bürgermeister-Beamten vollgestopft sind, an deren Spitze jeweils ein filzokratisch zusammengemauschelter Landrat steht, ist ein Unding und begünstigt nur einen: den Parteienstaat und seine Politik für sich selbst. Das Ergebnis ist eine bürgerferne Politik in den Kommunen. Und die Möglichkeit klammheimlicher Manipulation.

Ich glaube, als ich im Gemeinderat von Amtzell einer Abstimmung über den Sofortaustritt aus dem Biosphären-Prüfprozess beiwohnte, war ich Zeuge so eines Vorgangs. Stuttgart setzte sich letztendlich durch – mit engagierter Unterstützung der Bürgermeister-Beamtin Manuela Oswald.

Das habe ich in meiner Vor-Ort-Reportage „Das Misstrauen der Gemeinderäte gegenüber dem Staat“ aufgeschrieben. Zum Artikel geht’s → hier.

Bei öffentlichen Auftritten des Prozessteams und vonseiten wichtiger Politiker-Beamter (Klaus Tappeser, Timo Egger, Harald Sievers, Manuela Oswald usw.) wird immer wieder betont, dass die Gemeinden selbst bestimmen dürfen, ob sie Teil der Biosphäre sein wollen oder nicht. 

Ich halte das für Bullshit, seit ich weiß, wie das Macht- und Einflussmobile in Baden-Württembergs Kommunalpolitik funktioniert und wie man es mit einem zarten Lufthauch aus Stuttgart in die gewünschte Richtung drehen kann. 

Es wird Zeit, dass die Landräte von Bürgern gewählt werden. Bis dahin ist das Gerede von der Selbstbestimmung in den Gemeinden eine Farce.

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