Ein 25seitiges Tagungsprotokoll ist wahrscheinlich das einzige Dokument, das die Wahrheit über den Stand des schwäbischen Biosphärenprojekts offenbart. Fazit: Die Vorbehalte sind erheblich.
Zweimal im Jahr treffen sich Mitglieder des Vereins Agrecol zu einer Tagung und sprechen über ökologische Landwirtschaft und Bodennutzung. Deutscher Vorstand des Vereins ist Jochen Currle, promovierter Agrarwissenschaftler und ehrenamtlicher Bürgermeister der zwei winzigen Gemeinden Guggenhausen und Unterwaldhausen mit insgesamt 500 Einwohnern, die etwa 25 Kilometer vom Nordufer des Bodensees entfernt leben.
Von Currle erwartet man erstmal uneingeschränkten Biosphären-Enthusiasmus. Doch dem ist nicht so, obwohl der Ackerbau-Experte dem Biosphären-Konzept grundsätzlich wohlgesonnen ist.
Currle ist parteilos. Sein Blick auf die Vorgänge im Land ist durch viele Jahre in der Entwicklungshilfe geprägt. Da geht es nie um wer-gegen-wen sondern die komplexen Wechselwirkungen zwischen Zentralmacht und ländlicher Bevölkerung, Boden und Lebensmittelwirtschaft, Lebensraum und Überflussgesellschaft. Currles Interesse wirkt frei von ideologischer Verschmutzung.
Alles auf den Kopf gestellt
Über das Projekt Oberschwaben-Allgäu sagt er: „Der Prozess wurde nicht gut aufgesetzt. Man hätte Betroffene vorher befragen müssen, zum Beispiel die Bürgermeister und den Bauernverband, bevor man einen Koalitionsbeschluss fasst und an die große Glocke hängt. Dann kam dieser → forsche Spruch von Andreas Schwarz und alles war auf den Kopf gestellt. Damit wurde viel Empörung angefacht.“
Mein ganzes Gespräch mit dem skeptischen Biosphären-Freund Jochen Currle steht → hier.
Zurück zum Verein Agrecol und womit man sich dort beschäftigt. Thema eines dieser Treffen war das geplante Biosphärenreservat Oberschwaben-Allgäu und vor welchen Herausforderungen seine Macher bei der Umsetzung stehen. Unter den 34 Teilnehmern der Veranstaltungen im Mai 2023 in Currles Heimatgemeinde befanden sich wissenschaftliche Mitarbeiter diverser Hochschulen und Behörden in Baden-Württemberg, aber auch von weiter her. Jochen Currle war ihr Gastgeber.
Im Mittelpunkt der Veranstaltungen standen zwei hauptamtliche Manager des Biosphärenprojekts im Landratsamt Ravensburg, die Raumplanerin Lisa Polak und der Agrarbiologe Franz Bühler. Beide hielten einen Vortrag über ihre Arbeit und wie sie seit Sommer 2022 versuchen, ausgewählte Menschen in den betroffenen Gemeinden zu überzeugen.
Missgeburt Biosphärenreservat
Danach schwärmten die Teilnehmer in Kleingruppen aus, um Menschen zu befragen, wie sie die Informationspolitik rund um das geplante Biosphärenreservat erleben: darunter ein Bürgermeister, Naturschützer, Biobauer und konventioneller Landwirt, ein Forstbesitzer und Vertreter der Tourismuswirtschaft. Alles wird säuberlich protokolliert, besprochen und präsentiert. Am Folgetag brechen alle zu einer geführten Moorwanderung auf.
Obwohl Bühler und Polak immer wieder betonen, dass man aus neutraler Position informiere und das Biosphärenreservat nicht bewerbe, stehen im Agrecol-Protokoll ernüchternde Beobachtungen der Tagungsteilnehmer, die viele Kritikpunkte auflisten. Unter anderem diese:
- Das Biosphärengebiet nimmt Bedarfe der Region nicht auf und ist unnötig.
- Wichtige Akteure erfuhren erst aus der Presse, was auf sie zukommt.
- Die Projektentstehung ist intransparent.
- Es dominiert die Angst vor Fremdbestimmung und die Befürchtung, etwas übergestülpt zu bekommen.
- Das UNESCO-Siegel verstärkt den Eindruck der Fremdbestimmtheit.
- Die angebliche „Ergebnisoffenheit“ im Prozess wird stark angezweifelt.
- Dass das Biosphärengebiet bereits im Koalitionsvertrag der grünschwarzen Regierung von Baden-Württemberg steht, ist ein Geburtsfehler.
- Der Großteil der Bevölkerung weiß nichts über das geplante Biosphärengebiet und steht außen vor.
- Die politische Erwünschtheit des Biosphärengebiets verwirrt manche Akteursgruppen.
- Die Meinungsbildung und Agitation verläuft parallel, womit wohl eine gewisse Doppelzüngigkeit gemeint ist.
Diese Erkenntnisse decken sich übrigens mit einer wissenschaftlichen Studie aus dem Jahr 2022 mit dem Titel → Eine kritische Untersuchung der boomenden Ausweisung von Biosphärenreservaten in Spanien, die unter anderem zu folgendem Fazit kommt: „Die lokale Bevölkerung lehnt die untersuchten Biosphärenreservate tendenziell ab.“
Die Autoren erklären darin sehr genau die historische Entwicklung des Konzepts der UNESCO-Biosphärenreservate und teilen ein zwischen Gebieten, deren Gründung vor Etablierung der sogenannten Sevilla-Strategie erfolgte, und nach 1995, als einheitliche Standards beschlossen wurden. Zitat: „Obwohl die nach Sevilla ausgewiesenen Biosphärenreservate erfolgreicher sind, weisen sie auch schwerwiegende Probleme auf, darunter die fehlende Finanzierung, die ineffektive Verwaltung, die geringe Beteiligung der lokalen Bevölkerung, wenn nicht gar deren völlige Ablehnung, die fehlende politische Unterstützung und die mangelnde Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Regierungen oder Behörden.“
Geht’s auch ohne Biosphärenreservat?
Was tun? Das fragten sich die Agrecol-Leute. Schließlich ist man nicht zum Jammern zusammengekommen. Deshalb haben die Tagungsteilnehmer eine Liste mit Empfehlungen aufgestellt, wie man die multiplen Gebrechen des Biosphärentraums beseitigen könne.
Als dringende Empfehlung steht im Tagungsprotokoll: mehr Transparenz wagen. Der Prozess sei von Anfang an zu sehr von oben aufgesetzt und gesteuert, die Interessen und Bedürfnisse aller Beteiligten zu wenig berücksichtigt worden. Und: Das Prozessteam könne sich ja der Möglichkeit öffnen, die Region ohne Biosphärengebiet zu entwickeln.
Das wird man in Stuttgart nicht gerne lesen. Zum Protokoll des Agrecol-Jahrestreffens geht’s → hier.