Der tiefe Schlaf der Schwabenpresse

Winfried Kretschmann

Komischerweise fällt die schwäbische Presse immer dann in Tiefschlaf, wenn jemand dieser Regierung den Marsch blasen müsste.

Zuletzt war das der Fall, als sich Landesvater Winfried Kretschmann über ein grünes Lieblingsprojekt äußerte, das in die Kritik geraten ist: die Biosphäre.

Kretschmann zeigte sich im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur (dpa) irritiert über den Widerstand gegen die Pläne für das riesige UNESCO-Biosphärenreservat, das über Oberschwaben und das westliche Allgäu gelegt werden soll. Fast 10-mal so groß wie Liechtenstein könnte die Biosphäre werden und die regionale Wirtschaft unter sich begraben.

Beinahe der ganze Landkreis Ravensburg (290.000 Einwohner) ist betroffen. Kritiker befürchten erhebliche Einschränkungen, denn wenn die Biosphäre kommt, gilt das Naturschutzrecht, lokale Zuständigkeiten verschwinden und das Umweltschutzministerium im fernen Stuttgart übernimmt die Macht.

Kretschmann sagt, er verstehe den Widerstand nicht und heftet die Gegenstimmen im Ordner „Bauernproteste“ ab, der im Regal der Grünen direkt neben „AfD+Nazi“ steht. Zitat Kretschmann: „Die Oberschwaben sind halt etwas dickköpfig.“

Das alles kann man lustig finden oder gefährlich. Abgehoben oder verwirrt. Schrullig oder größenwahnsinnig. Alles geht. Wir leben in einem demokratischen Land, in dem die Meinungsfreiheit hochgehalten wird.

Ja, einfach mal die Bevölkerung Oberschwabens (620.000 Bürger) als begriffsstutzig hinstellen, weil ein anscheinend überflüssiges Projekt nicht so gut ankommt – auch das geht.

Wie gesagt, es gilt die Meinungsfreiheit.

Aber es kommt darauf an, WER so etwas sagt. In diesem Fall der mächtigste Mensch im Land. Leitfigur einer Partei, deren Anhänger regelmäßig wie am Spieß brüllen, wenn irgendwo ein Hauch Diskriminierung ruchbar wird. Ist das nicht ein bisschen grotesk?

Genau dieser Gedanke kam mir sofort.

Und wie kommentiert die schwäbische Presse diese Steilvorlage aus dem Mund von Winfried Kretschmann, der heute (Donnerstag) 76 Jahre alt wird?

Gar nicht. Seit über zwei Wochen. Ich halte DAS für einen Skandal. Nicht den irren Spruch des alten Herrn. Und ich stelle mir die Frage: In welch armseligem Zustand befinden sich Schwabens Redaktionen?

Was Kretschmann genau sagte, kann man → hier nachlesen.

Warum gab es keinen Kommentar in Stuttgarter Zeitung, Schwäbischer Zeitung, Südwest Presse, SWR und allen kleineren Medien, die im Machtbereich des alten Mannes erscheinen oder senden?

„Hier schreibt man ungern gegen diese Regierung an. Das gehört nicht zum guten Ton“

Spürte keiner der Journalisten unter den Fingernägeln ein Jucken, als er las, wie Kretschmann einen ganzen Bevölkerungsteil abkanzelt?

Weil einige etwas ablehnen, das seine Regierung ausgeheckt hat.

Das frug ich einen Bekannten, der in einem der obengenannten Häuser arbeitet. Die verrückte Antwort: „Du weißt ja, am nächsten Tag war erster Mai, dann kamen zwei Brückentage, und wenn du mich schon so direkt fragst – hier schreibt man ungern gegen diese Regierung an. Das gehört nicht zum guten Ton.“

Fazit: Work-Life-Balance und politischer Opportunismus heißt das Amalgam, das den modernen Schwabenjournalismus prägt.

Tageszeitungen in Deutschland verlieren durchschnittlich etwa 8 Prozent ihrer Auflage im Jahr. Die Publikumsentwicklung beim politisch verfilzten Zwangsfunk ist ohnehin bekannt.

Insbesondere bei Regional- und Lokalmedien ist einhergehend zu beobachten: Je weniger Leser/ Zuhörer/ Zuschauer sie finden, desto näher rücken Journalisten mit Politikern zusammen und entfernen sich noch weiter vom Bürger weg.

Ein Blick in die Schwäbische Zeitung genügt: Viele Artikel über Volksvertreter sind aus peinlicher Polit-PR zusammengeschustert.

„Leute wollen aber nicht als Kinder behandelt werden, die wollen, dass man ihre Interessen vertritt“

Wie soll sich da noch ein normaler Leser angesprochen fühlen, der erlebt, wie dysfunktional der Alltag für ihn geworden ist? 

Bahn: zu spät oder fällt aus. Straße: gesperrt. Wohnung: gibt’s keine. Strom: teurer als im Ausland. Arzt: keine Termine. Internet: laaangsam. Und so weiter.

Im Hintergrund läuft die Begleitmusik: Nachrichten über Rekordeinnahmen bei Steuern und unfassbare Geldverschwendung der öffentlichen Hand.

Dann passiert etwas.

Jemandem brennt die Sicherung durch. Und alle fragen sich erschreckt: Wo kommt dieser Hass auf Politiker her? 

Die üblichen Mahner schieben die Schuld auf eskalative Internetdienste. TikTok, Facebook, Instagramsind schuld und müssen reguliert werden!

Hm.

Könnte es sein, dass Schönfärbemedien, die sich an die Politik ranschmeißen, auch ein wenig mitschuldig sind, wenn sich Verzweiflung und Wut in dumpfer Gewalt entladen? 

Die kluge Schriftstellerin Juli Zeh sagte in einem TV-Interview anlässlich zunehmender Rohheit gegen Mandatsträger: „Was man schon zur Kenntnis nehmen muss, ist, dass den Leuten in den letzten zehn Jahren wirklich viel zugemutet worden ist. Und damit meine ich nicht nur Corona, sondern ich meine auch, dass wir im Land wahnsinnig viele Baustellen haben, die in die existentiellen Lebensbereiche rein regieren: Krankenhäuser, Schulen, öffentlicher Nahverkehr, Renten, Pflege. Da ist so ein krasser Handlungsbedarf und da passiert so wenig, dass Menschen auch nicht ganz zu Unrecht das Gefühl haben, dass Politik zunehmend am Bürger vorbei gemacht wird und mehr eigene Ziele verfolgt, die dann ständig erklärt werden müssen. Leute wollen aber nicht als Kinder behandelt werden, die wollen, dass man ihre Interessen vertritt. Dafür sind demokratische Politiker auch da. Und ich glaube, da ist wirklich auch ein Missverständnis auf Seiten der Politik, für wen sie eigentlich arbeiten.“

Zm TV-Interview geht’s → hier.

Dann kommt einer, dessen Leute ein Biosphärenreservat einrichten wollen, dessen Sinn nebulös erscheint.

Was konkret geplant ist, verraten die Biosphärenmacher allerdings nicht. Mit gutem Grund: Schweigen ist besser als Lügen. Nur das ist sicher:

  • Entmündigung der lokalen Behörden, da alles dem Naturschutz unterworfen wird.
  • Noch mehr Verwaltungsplanstellen und Beamte, die vorschreiben und verbieten.
  • Noch weniger Ressourcen, um die wirklich wichtigen Themen im Land anzupacken. 

Was kann man tun, um noch mehr Misstrauen zu ernten? Mir fällt nichts ein. Aber Winfried Kretschmann wundert sich: „Dieser Widerstand aus Oberschwaben ist mir etwas unerfindlich.“

Jemand, der so wenig versteht, hat in diesem Amt nichts verloren. So etwas wird man in einem Schwabenmedium niemals lesen.

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